Literaturnobelpreis 1991: Nadine Gordimer

Literaturnobelpreis 1991: Nadine Gordimer
Literaturnobelpreis 1991: Nadine Gordimer
 
Die südafrikanische Autorin erhielt den Nobelpreis für ihre »epische Dichtung, die durch die Einblicke in das historische Geschehen dazu beiträgt, dieses Geschehen zu formen«.
 
 
Nadine Gordimer, * Springs (Transvaal) 20. 11. 1923; Besuch einer Klosterschule, dann der Witwatersrand University (ohne Abschluss), ab 1948 Schriftstellerin in Johannesburg, in den 1960er- und 1970er-Jahren verschiedene Lehraufträge in den USA, Gründungsmitglied des Congress of South African Writers.
 
 Würdigung der preisgekrönten Leistung
 
Der Nobelpreis wurde Nadine Gordimer nicht nur wegen ihrer schriftstellerischen Qualitäten verliehen, die das Nobelkomitee vor allem in ihrer Fähigkeit erblickte, das Zeitgeschehen zugleich unmittelbar und analytisch darzustellen. Sie erhielt den Preis auch für ihr persönliches Engagement, da sie in einem »Polizeistaat« für die Freiheit der Meinungsäußerung und der Literatur eingetreten sei.
 
 Schwarz und Weiß
 
Nadine Gordimer hat das Thema ihrer Werke ebenso früh zu entwickeln begonnen wie ihren Stil. Im Alter von 15 Jahren wurde in einer südafrikanischen Zeitschrift ihre erste Erzählung veröffentlicht. Als Tochter eines Juden aus Litauen und einer englischen Mutter wuchs sie in der Nähe von Johannesburg auf. Ihre übervorsichtige Mutter untersagte ihr die üblichen Spiele eines Kindes und schickte sie in eine Klosterschule. Das Mädchen flüchtete sich in die Welt der Bücher und begann früh zu schreiben. Die Probleme der südafrikanischen Gesellschaft wurden sehr bald der Hauptgegenstand ihres Schaffens, insbesondere die Apartheidpolitik.
 
Als diese nach 1948 ihren ersten Höhepunkt erreichte und sich ab 1952 der Widerstand organisierte, erschien Gordimers erster Roman »Entzauberung« (1953). In diesem stark autobiografischen Buch wächst die Protagonistin, Helen Shaw, ohne Kontakt zur schwarzen Bevölkerung in der weißen Mittelschicht Südafrikas heran. Erst nach ihrer Hochzeit mit Paul, der mit friedlichen Mitteln gegen die Politik der Regierung kämpft, lernt sie die gesellschaftliche Wirklichkeit kennen. Die Augen kann sie nicht mehr verschließen, als sie auf einer Demonstration miterlebt, wie ein Schwarzer von der Polizei umgebracht wird. Zunehmend erkennt sie ihr eigenes Leben als Illusion, als Luftblase innerhalb einer zerklüfteten Gesellschaft; falsch ist nicht nur ihre Vergangenheit im Schoß ihres Elternhauses, sondern auch ihre Ehe mit Paul, der sie als unmündiges Wesen behandelt.
 
 Verhärtung der Fronten
 
In den 1950er-Jahren bildete sich in der weißen, intellektuellen Elite eine Opposition gegen die Apartheidpolitik heraus, zu der auch Nadine Gordimer zählte. Zwischen den Oppositionellen und den Schwarzen entstanden Bündnisse für eine liberale Gesellschaft ohne Rassentrennung. Die weiße Regierung und der schwarze Widerstand trieben jedoch zu immer extremeren Positionen. In den 1960er-Jahren ging die Polizei in den Townships immer gewalttätiger vor, während es seitens der Schwarzen zu Aufständen und Anschlägen kam. Zeitgleich mit den afrikanischen Unabhängigkeitsbewegungen tendierte das wichtigste Organ der schwarzen Südafrikaner, der ANC (African National Congress), zum Marxismus, vor allem nach Nelson Mandelas Inhaftierung im Jahr 1962.
 
Gordimers zweiter und dritter Roman, »Fremdling unter Fremden« (1958) und »Anlass zu lieben« (1963), befürworten noch die liberale Position. In beiden Werken stehen persönliche Beziehungen zwischen liberalen Weißen und Schwarzen im Vordergrund. Die weißen Hauptfiguren erkennen wie im ersten Roman erst nach und nach ihre Rolle in der südafrikanischen Gesellschaft.
 
Im Zuge der Radikalisierung beider Fronten folgte Nadine Gordimer dem ANC, wenn auch nicht im Sinne der offiziellen Mitgliedschaft in einer politischen Gruppierung. Ein Teil ihrer Bücher wurde zensiert, aber sie musste weder ins Exil noch ins Gefängnis wie die schwarzen Schriftsteller. Die politische Entwicklung bildet den Hintergrund für den 1966 erschienenen Roman »Die spätbürgerliche Welt«. Elisabeth, die Heldin des Buchs, ist weit reifer als die Frauenfiguren der früheren Werke, für die Befreiung zum großen Teil eine sexuelle und individuelle Angelegenheit war. Sie ist auch bedeutend radikaler. Sie gelangt zu der Überzeugung, dass nur der revolutionäre Kampf zu einer Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse führen kann. Am Ende des Romans will sie ihr ererbtes Vermögen der Revolution zur Verfügung stellen. Zur realistischen Erzählweise gesellte sich in den späteren Werken Nadine Gordimers eine symbolistische Komponente. In dem Roman »Der Besitzer« (1974) stellte sie der Lebenswelt eines weißen Industriellen das magische und mythische Universum der Zulus gegenüber. »Burgers Tochter« (1979) erzählt die Geschichte Rosa Burgers, Tochter zweier Mitglieder der Kommunistischen Partei Südafrikas. Im Gegensatz zu ihren früheren Heldinnen wächst Rosa politisiert auf und muss ihre eigene Identität in der Auflehnung gegen die »richtige« politische Seite finden. Schließlich landet sie im Gefängnis, wie ihr Vater.
 
 
In der Begründung des Nobelkomitees wurden zwei späte Romane, »Julys Leute« (1981) und »Die Geschichte meines Sohnes« (1990), sowie die Kurzgeschichten Nadine Gordimers besonders hervorgehoben. Der Gegenstand der Romane ähnelt dem der früheren Bücher, sie beleuchten die Situation des kritischen Weißen in der ungerechten Gesellschaft Südafrikas. Die Anerkennung des Komitees galt der weiblichen Sichtweise, dem Mitgefühl und dem literarischen Stil der Schriftstellerin. Außerdem wurden der Facettenreichtum und die kraftvolle Erzählweise gelobt. An Gordimers Romanen hat man oft kritisiert, dass sie zahlreiche Zitate aus dem Bereich des Marxismus enthielten, die unterhalb des wissenschaftlichen Niveaus ständen und eine theoretische, zukunftsweisende Rolle beanspruchten, die sie nicht erfüllen könnten. Zielscheibe dieser Kritik war insbesondere »Ein Spiel der Natur« (1987). Ferner habe sie zwar die problematische Situation aufgeklärter und gut situierter Weißer in Südafrika beleuchtet, das Leid und die Welt der Schwarzen dagegen weder gekannt noch dargestellt. Allerdings mussten die Kritiker nicht nur die literarische Qualität ihrer Bücher anerkennen, sondern auch ihren Verzicht auf eine falsche Glorifizierung einer Partei oder Person in der südafrikanischen Politik.
 
Letztlich wurde Gordimers Glauben an eine Gesellschaft ohne Rassentrennung nicht enttäuscht. Heute gehört die Politik der Apartheid der Vergangenheit an. Die Verleihung des Nobelpreises an Gordimer war auch eine Absage an Rassismus und Unterdrückung. Dadurch hat die Schriftstellerin ihr Hauptthema jedoch nicht verloren, denn die südafrikanische Gesellschaft ist von echtem Frieden noch weit entfernt. Das Problem der Gewalt im heutigen Südafrika thematisiert Gordimers jüngster Roman »Die Hauswaffe« (1998). Wiederum sind liberale Weiße, in diesem Fall ein Ehepaar, die Protagonisten. Das Buch soll in unmittelbarer Zukunft als erster von Gordimers Romanen verfilmt werden.
 
B. Rehbein

Universal-Lexikon. 2012.

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